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02.05.2023

Der Traum vom blauen Allgäu +++ Weiterer Schatz des Heimatkundlichen Dokumentationszentrums

Lindau (Bodensee) – Die Geschichte des Soldaten Franz war Auftakt einer Serie, in der mehrere Schätze des Heimatkundlichen Dokumentationszentrums vorgestellt werden sollen. In der zweiten Folge geht es um den „Traum vom blauen Allgäu“. War es früher tatsächlich vom blau blühenden Lein übersät oder ist das nur ein Mythos? Andreas Kurz, früher Leiter des Heimatkundlichen Dokumentationszentrums in Weiler, hat sich mit dem Anbau von Flachs ausgiebig befasst. Das Ergebnis seiner Recherchen hat er im Band „Flachs – Der Mythos vom ,blauen Allgäu‘“, erschienen in der Reihe „Westallgäu und Bodensee“ von Professor Dr. Wolfgang Hartung, dokumentiert.

Schon mal von Zwillich gehört? Oder von Schupposen, Mittler oder Wepfe? Das sind Begriffe von vielen, deren Bedeutung der Historiker Andreas Kurz kennen musste, um überhaupt zum Thema „Flachs – Der Mythos vom ,blauen Allgäu‘“ recherchieren zu können. Zwillich wird definiert als ein aus Flachs oder Hanf gefertigtes dichtes Gewebe, ein grobes Leinengewebe (Sackleinen); dichtes zweifädiges Leinen- beziehungsweise Baumwollgewebe in Köper- oder Atlasbindung, wie Andreas Kurz erklärt. Schupposen sind durch Aufteilung eines Hofguts entstandene eigenständige Güter. Mittler ist eine Leinwandsorte mittlerer Qualität oder aus mittelstarkem Faden. Und Wepfe ist ein Halbfabrikat aus Leinengarn, eine Kette zum Einrichten auf dem Webstuhl.

Die Begriffe weisen den Weg zur Nutzpflanze Flachs, deren Fasern zu Leinengewebe verarbeitet werden. Andreas Kurz begann, sich mit dem Thema „Blaues Allgäu“ zu befassen, nachdem er eine Anfrage von Dr. Alois Niederstätter vom Landesarchiv Vorarlberg bekommen hatte – dieser plante damals eine Veranstaltung zum Thema „Agrargeschichte im Bodenseeraum – Mittelalter und frühe Neuzeit.“

Andreas Kurz stellte das „Blaue Allgäu“ schnell in Frage. „Für mich war es nicht vorstellbar, weil man sonst die Drei-Felder-Wirtschaft hätte aufgeben müssen“, sagt er. Und: „Flachs kann man auf derselben Fläche nur alle sechs Jahre anbauen.“ Zudem habe man nicht genug Arbeitskräfte für den Anbau von Flachs in Monokultur gehabt.

Über Jahre forschte Andreas Kurz immer wieder nach, die Recherche war sehr zäh. „Verlässliche Aussagen über den flächenmäßigen Umfang des Flachsanbaus im Allgäu lassen sich erst seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf der Basis statistischer Erhebungen gewinnen“, schreibt Andreas Kurz in seiner Dokumentation. Zwar finde sich der Allgäuer Flachs literarisch bereits in der 1544 erschienenen „Cosmographia“ des Kosmographen Sebastian Münsters (1488 – 1552). Darin werde von der Verarbeitung des Rohstoffs Flachs „als einem wichtigen Gewerbezweig berichtet, nicht etwa von seinem besonders intensiven Anbau“. Die Abgabepflicht in den so genannten Urbaren, den Verzeichnissen über Besitz und Rechte eines Grundherrn und Leistungen seiner Grunduntertanen, erstrecke sich aber „durchwegs auf wenige Leinengüter. Die Gesamtmenge der Forderungen an Flachs ist zudem durchwegs gering“, stellt der Autor fest. „Wir können deshalb davon ausgehen, dass Flachs lediglich zur Sicherstellung des eigenen Bedarfs von den Inhabern der jeweiligen Herrschaft eingefordert wurde.“

Auch im Altenburger Urbar von 1569 sei Flachs „als Naturalabgabe auf einzelnen Positionen verzeichnet“ – aber nicht in der Menge, die den Begriff des „blauen Allgäus“ rechtfertige. Dies trifft offenbar auch auf die Zinsbücher und Zinsrodel des im Allgäu und Oberschwaben begüterten Klosters Mehrerau bei Bregenz aus der Zeit von 1290 -1505: Die Abgabe von Flachs lasse sich „lediglich in geringen Mengen nachweisen“. Andreas Kurz schreibt: „Es scheint sich hierbei aber um eine recht ungewöhnliche Abgabe gehandelt zu haben. Auch in den Urkunden finden sich nur gelegentlich Hinweise auf den Anbau und den Handel mit Flachs.“ Kaum Belege für den Flachsanbau gebe es zudem in den Orts- und Flurnamen.

Selbst in den Zehntbüchern der Pfarreien, beispielsweise der von Stiefenhofen oder Ellhofen, lasse sich die Abgabe von Flachs beziehungsweise Flachsgeld „lediglich in geringer Menge nachweisen“. „Flachs und Hanf werden nur in einer Quantität erzeugt, welche den gesamten Bedarf der Gemeinde-Angehörigen nicht vollständig deckt. Überschuss zum Verkauf ergibt sich keiner“, schreibt Pfarrer Joseph Hauber 1836 im Jahrbuch der Pfarrey Lindenberg. „Den Flachs und Hanfbau mehr erweitern und ins Größere ausdehnen, halten die Meisten als nicht vorteilhaft, weil sie in der dazu erforderlichen Zeit mit Strohhut-Arbeit mehr verdienen und auf dem Feld und mit dem erforderlichen Dünger leichter etwas anderes anbauen können.“

„Zwar gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl staatliche als auch private Bestrebungen mit dem Ziel, den Flachsanbau neu zu beleben“, stellt Andreas Kurz fest. „Initiativen dieser Art scheiterten ebenso wie die zahlreichen Aufrufe in den amtlichen Bekanntmachungen, in denen von staatlicher Seite zur Gründung von Fabriken zur Flachsgarnerzeugung aufgefordert wurde.“ Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei die Bedeutung des Flachsanbaus im Westallgäu so weit zurückgegangen, „dass er nur noch von kleinen Häuslern zur Deckung des Eigenbedarfs betrieben wurde“.

Auch wenn die Quellensituation „unbefriedigend“ sei, auch heute noch immer wieder vom „Blauen Allgäu“ die Rede ist, folgert Andreas Kurz, dass sich diese Vorstellung bei näherer Betrachtung endgültig als „Fiktion“ erweise.

Der Pfarrer und Richter Peter Dörfler schwärmt in seiner Allgäu-Trilogie von „zwei blauen Himmeln, dem oberen und dem unteren“. Das Romanwerk hat er 1934 und 1936 verfasst. Vielleicht hat der Autor damals die einst wenigen kleinen Felder großgeträumt, weil sie ihm so gut gefallen haben.

Info: Von Nachlässen bis hin zu mehr als 5000 heimatkundlichen und geschichtlichen Büchern und Zeitschriften: Das Heimatkundliche Dokumentationszentrum des Landkreises Lindau in Weiler im Allgäu bewahrt Schätze der historischen und heimatkundlichen Forschung. Dazu gehören auch Kreis- und ortsgeschichtliche Sammlungen, Festschriften, Fotos, Ansichtskarten, historische und topografische Karten und Pläne, Zeitungsbände des Westallgäuers und Vorläufers ab 1854, Amts- und Regierungsblätter (ab 1803) sowie Gesetz- und Verordnungsblätter (ab 1818), Nachlässe verschiedener Heimatforscher und eine Kunstsicherungskartei mit fotografischen Bestandsaufnahmen und Beschreibung von Kircheninventaren.

Wer Interesse an Heimatgeschichte hat oder Möglichkeiten zum Recherchieren sucht, ist dort willkommen und kann per E-Mail (hdz@landkreis-lindau.de) einen Termin vereinbaren oder den neuen, kostenlosen Newsletter abonnieren. Damit informiert das Heimatkundliche Dokumentationszentrum künftig über Interessantes und Neuerwerbungen.